Mentalisierungsbasierte Familientherapie

Neulich…

…war ich auf einer Fortbildung „Mentalisierungsbasierte Familientherapie“, durchgeführt von einem Arzt, der in den sozialen Brennpunkten Londons seinen Einsatz bekommt, wenn Familien mit schlimmsten Hintergrundgeschichten – das wollen Sie jetzt nicht mal im Ansatz wissen! – beurteilt werden sollen, ob Eltern (wieder) mit ihren Kindern zusammenleben können.

Höchst aufschlussreich war für mich dabei eine besondere Erkenntnis.

Normalerweise bewege ich mich in meiner therapeutischen Arbeit sehr stark im systemischen Rahmen. Und glücklicherweise lassen sich viele Zusammenhänge so sehr schnell im Kern erfassen, damit das „Übel“ auf den Punkt bringen und – so Gott will – zusammen mit den KlientInnen gute Lösungen entwickeln.

Hier nun wurden uns Ansätze vorgestellt – ich vermute, man würde sie eher der Verhaltenstherapie zuordnen -, die ich höchst interessant für das Verständnis so mancher Symptome halte.

So wurden uns u. a. Mitschnitte von Trainingseinheiten gezeigt, in denen Eltern mit starken psychischen Einschränkungen lernten, auf ihren Säugling in gesunder Weise zu reagieren.

Eine natürliche Reaktion ist: wir interagieren mit den Babys spontan zugewandt, lächelnd, voller Mitgefühl, kreativ, musikalisch, mit kleinen Spielen und Ansprachen. Daraufhin mimen die Babys, wenn sie nicht gerade von körperlichen Beschwerden abgelenkt sind, unsere Darbietung im Rahmen ihres Entwicklungsstandes nach. Was wiederum dazu führt, das wir uns wieder etwas einfallen lassen, um das Kind zu erfreuen, erstaunen, belehren oder einfach nur Spaß zu haben.

Einer solch im psychischen Sinne gesunden Mutter wurde aufgetragen, bei einem verabredeten Zeichen abrupt mit der Interaktion zu stoppen. In diesem Setting konnten wir dank eines Spiegels sowohl Mutter als auch Kind gleichzeitig beobachten.

Als nun die Mutter nach einer Weile fröhlicher „Unterhaltung“ mit ihrem Kleinkind nicht mehr reagierte, konnten wir erleben, wie stark das Kind irritiert war. Es verstand die Welt nicht mehr – was war nur mit Mama los? Warum antwortete sie nicht mehr, sondern machte nur noch ein neutrales, steifes, ja fast abweisendes Gesicht?

In der Mimik des Kindes spiegelte sich Zweifel wider: habe ich vielleicht etwas falsch gemacht? Was um Gottes Willen muss ich tun, damit ich mich nicht so allein fühle? Wenn meine Mama nicht mehr reagiert, wer kümmert sich dann um mich? …

Die Spannung im Raum war fast nicht auszuhalten. Wir alle wünschten uns, das Kind zu entlasten. Wir wollten, dass die Mutter so schnell wie möglich wieder zu ihrem normalen Spiel mit dem Kind zurückkehrte, und ich bin ganz sicher, dass so einige der KollegInnen bei diesem Versuch an Kindesmisshandlung dachten.

Dann sahen wir Mütter (und Väter) mit starken Depressionen, Selbstzweifeln, Unsicherheit, Ablehnung gegenüber dem Kind. Es wurde sehr klar, dass diese Kinder völlig andere Botschaften von ihrer innerlich abwesenden Mama oder Papa empfingen.

Ein aus dieser Beobachtung entwickeltes Modell postuliert:
Ein Kind, das Anregung durch eine Person bekommt, darauf antwortet und wiederum selbst eine Reaktion darauf erhält, bildet eine positive Identität bzw. überhaupt eine Identität aus.

Ein Kind, dem das nicht vergönnt ist, weil es selbst nur die Unsicherheit, den Zweifel, die Ablehnung oder eine andere Art von Abwesenheit präsentiert bekommt, übernimmt genau diese „Leere“ als Maßstab für die eigene Identität – da bildet sich ein „Nichts“ im Inneren, wo die Freude, das Lachen, das Staunen, die Lebendigkeit sein sollten.

Eine Frage aus dem „Inneren-Kind“-Seminar bekam durch diese beobachtende Erfahrung für mich einen vertieften Sinn:

„Wer bin ich im Spiegel der Augen meiner Mutter/meines Vaters?“

Diese eindrucksvolle Erweiterung meines Horizonts als Therapeutin konnte ich – wie zufällig – gleich bei einer tapferen, immer wieder an sich selbst zweifelnden Klientin zum Einsatz bringen, deren Mutter „eigentlich“ den Vater verlassen wollte, als sie schwanger wurde, und die im Endeffekt Vater UND Kind verlassen hat.

Bei einer Arbeit, bei der es eigentlich nur um lästige körperliche Symptome ging, verwandelten sich die Symptome mit Hilfe einer Aufstellung überraschend in Ressourcen, in Anteile der Persönlichkeit, die darauf warteten, gesehen, gewürdigt und integriert zu werden.

Als die Hauptarbeit getan war und die Klientin selbst an ihren Platz gestellt wurde, ging ein Anteil (voller Energie und Freude) auf die Klientin zu und sagte strahlend und warmherzig: „Ich bin du!“

Und die Klientin stand und staunte und begriff wortlos, aber durch unsere vorherige, gemeinsame Arbeit gut vorbereitet: das hat sie bei ihrer Mutter nie erlebt – bis jetzt!


© Sylvia Götting, Blumenstr. 9, 50259 Pulheim, www.allerleyraum.de

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner