Neulich…
…rief endlich mal wieder eine Freundin aus Kindertagen an. Mit ihr habe ich eine
dieser kostbaren Freundschaften, wo man vielleicht einmal im Jahr Kontakt hat,
aber immer wieder sofort den Anschluss findet, wenn man Rückblick hält auf die
Zeit, die man nicht miteinander geteilt hat.
Ich war froh von ihr zu hören, weil sie im Sommer einen grässlichen Unfall hatte:
Ein unter Drogen stehender Autofahrer hatte mit zu hoher Geschwindigkeit im
wahrsten Sinne des Wortes die Kurve nicht gekriegt und war auf einem Parkplatz
in eine Fußgängergruppe gekracht. Mit der Folge, dass meine Freundin zwei
Wochen ins künstliche Koma gelegt wurde, weil ihre Verletzungen zu schmerzhaft
waren. Sie hatte mehrere Rippen gebrochen, die eine Lungenhälfte perforiert
hatten, so dass diese kollabiert war. Es wurde eine Tracheotomie vorgenommen,
damit sie beatmet werden konnte. Außerdem war die rechte Hüfte in viele
Einzelteile zerbrochen und der linke Arm so verletzt, dass sich in der
Heilungsphase „wilder“ Knochen gebildet hat und sie jetzt den Arm weder richtig
beugen, noch richtig strecken kann.
All diese Informationen berühren einen ja schon, ohne dass man mehr wissen
muss – es klingt alles äußerst schmerzhaft und traumatisierend. Wenn man dann
noch weiß, dass meine Freundin allein erziehende Mutter eines 15-jährigen Sohnes
ist, möchte man sich angesichts dieses Schicksals schon innerlich schütteln.
Meine Freundin erzählte mir natürlich recht ausführlich darüber, wie sie die ganze
Geschichte erlebt hat, und dabei haben mich zwei Punkte so sehr berührt, dass ich
sie hier mit dir teilen möchte.
„Als ich im künstlichen Koma lag, ging es überhaupt nicht so, wie alle immer
erzählen – ein Tunnel, helles Licht, alles Frieden“, erzählte sie.
„Mir war nicht bewusst, dass ich einen Unfall hatte. Ich konnte meine Situation
nicht einschätzen. Ich war völlig desorientiert. In Gedanken wanderte ich zwischen
den Zeiten hin und her, mal dachte ich, ich sei im zweiten Weltkrieg in
Frankreich,“ – wo der Unfall passiert war – „mal dachte ich, mein Sohn sei schon
18 und das beruhigte mich, denn so konnte er ja gut bei seinem Vater und dessen
neuer Partnerin leben.“
„Aber ich hatte ungeheure Todesängste, denn ich glaubte, ich sei überfallen
worden. Ich bekam mit, dass man mich unter Drogen setzte.“ – die sedierenden
Medikamente, die sie im „Koma“ hielten – „Und ich bildete mir ein, ich werde
gefangen gehalten und man warte nur noch auf meinen Tod.“
Da ging mir durch den Kopf:
„Warum hat ihr niemand erzählt: ‚Sie haben einen Unfall gehabt, Sie sind im
Krankenhaus und wir stellen Sie ruhig, damit Ihre Heilung besser verlaufen kann.
Für Ihren Sohn ist gesorgt. Und bald werden Sie wieder aufwachen und am Leben
teilnehmen können.’“
Dann wäre ihre innere Qual vielleicht nicht so groß gewesen.
Denn sie erzählte weiter:
„Aber ich habe gekämpft, ich wollte unbedingt am Leben bleiben wegen meinem
Sohn – den wollte ich nicht allein lassen.“
Der andere Punkt, der mich so berührt hat, ist, wie fröhlich sie ans Telefon kam.
Ganz die alte Freundin, schwungvoll, irgendwie trällernd (kein Wunder: sie ist
Musikerin).
„Na, wie geht es dir denn? Was machen die Praxis, die Liebe und die Kinder?“
Ich war völlig verblüfft, weil sie so „normal“ klang. Dabei hatte mich eine
Bekannte kurz nach dem Unfall ins Bild gesetzt und meine Vorstellung war: Sie
schwebt immer noch zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod.
„Ne, ich bin jetzt seit einem Monat zu Hause,“ korrigierte sie meine Phantasien,
„nachdem ich erst lange im Krankenhaus in Frankreich war, dann noch mehrere
Wochen in der Reha. Ich muss erst Treppen steigen können, sonst kann ich mich
hier zu Hause gar nicht mit den Krücken bewegen.“
Und im Laufe des weiteren Gesprächs wurde klar, dass sie noch lange Zeit
brauchen wird, bevor sie wieder halbwegs ihre Glieder wird bewegen können, den
Arm vielleicht nie mehr richtig, dass sie sehr starke Schmerzen hat und auch nicht
gut schlafen kann, weil die kreuz und quer zusammen gewachsenen Rippen ihre
keine gute Schlafposition erlauben.
Dennoch war ihr wichtig, nicht zu jammern, sondern im Gegenteil, sich aktiv mit
dem Geschehen auseinander zu setzen.
„Wie viele Menschen, die ich kenne“, dachte ich bei mir, „würden sich jetzt mit
Empörung, Hass oder Wut über den Unfall-Verursacher ergehen, wären damit
beschäftigt, Ängste für die Zukunft zu ‚pflegen’ („werde ich behindert bleiben,
werde ich später meinen Beruf wieder ausüben können, wie schaffe ich das mit
meinem Sohn, wie geht es finanziell weiter“ usw.), würden verzweifeln bzw. ihre
Umgebung „auf Trab“ halten.“
Sie aber teilte mit mir ihre Gedankengänge:
„Weißt du, als ich dachte, ich sei im zweiten Weltkrieg in Frankreich, überlegte ich,
was ich denn verbrochen haben könnte, dass man mich bestraft. Ich war der
Meinung, wenn ich so etwas wie Karma auf mich geladen habe, wenn ich also
anderen Leid zugefügt habe, und jetzt ist das die Gegenbewegung oder die Strafe
dafür, dann bin ich bereit, all die Schmerzen und die Ängste auszuhalten, dann
stimme ich diesem ganzen Leid zu.“
Auch jetzt laufen mir die Tränen über die Wangen über ihren Mut zur
Konfrontation, ihre Bescheidenheit und ihre Demut angesichts dieses wirklich
schweren Schicksals.
Vielleicht denke ich beim nächsten Mal, wenn mir eigentlich nur der
sprichwörtliche „Furz“ quer sitzt und ich an Gott und der Welt verzweifeln möchte,
an meine Freundin.
Für mich ist sie eine „Heldin des Alltags“.
Und der Liebe.
©Sylvia Götting, Blumenstr.9, 50259 Pulheim, www.allerleyraum.de