Neulich…
…arbeitete ich wieder einmal mit einer Klientin, die schon seit Jahren relativ regelmäßig zu mir kommt. Vorbildlich, wenn man mich fragt, was die Psychohygiene angeht. Und was die volkswirtschaftliche Belastung betrifft. Denn jede/r, der/die rechtzeitig was für sich tut, erspart sich auf lange Sicht den einen oder anderen Arztbesuch – aus meiner Sicht.
Die Dame berichtete mir stolz von den Fortschritten ihres Sohnes, der inzwischen schon fast vier Jahre alt ist. Ein kleines Wunder, dass dieses Kind auf der Welt ist. Warum?
Die Dame war ursprünglich wegen diverser körperlicher Beschwerden zu mir gekommen, die u. a. nach Aufstellungen – nein, nicht wie durch ein Wunder verschwunden waren – aber doch immerhin eine deutliche Besserung erlebten; was dadurch ergänzt wurde, das im Fall von einem Symptom endlich eine fundierte ärztliche Diagnose gestellt werden konnte. Davor war sie von Arzt zu Ärztin und zurück gerannt (oder umgekehrt!).
Im Laufe der Jahre lüftete sich behutsam ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Naheliegend, dass ihre Selbstwertproblematik damit zu tun hat. Nicht ganz so naheliegend, dass auch die körperlichen Symptome ganz eng damit verknüpft sind/waren. Überhaupt nicht naheliegend auf den ersten Blick: ihre Kinderlosigkeit zum Zeitpunkt unseres Erstkontaktes.
Diese Kinderlosigkeit wirkte eher zufällig, so als Nebenprodukt, dass bis jetzt noch nicht „der Richtige“ aufgetaucht war, fast schon wie eine bewusste Entscheidung gegen Kinder. Sie litt ja vordergründig gar nicht daran, sich nicht fortzupflanzen. Sie war im Grunde erfüllt von ihrem Leben und ihrem Beruf, es fehlte nur das körperliche Wohlbefinden und – als i-Tüpfelchen – eine glückliche Partnerschaft.
Im Laufe der Arbeit – übrigens u. a. auch mit „erfolgreicher“ Bearbeitung des „fehlenden Richtigen“ – wurde jedoch deutlich, dass im tiefsten Innersten ihre eigenen negativen Erfahrungen in der Kindheit der wahre Grund waren, über lange Zeit einen Bogen um das Thema eigene Kinder zu machen.
Denn als der heißgeliebte Sohn endlich auf der Welt war, kamen ihre negativen Erfahrungen überhaupt erst ins Bewusstsein. Vor sich selbst hatte sie das Ausmaß des Schreckens so gut verborgen und abgespalten, um es nicht mehr fühlen zu müssen – und nicht ohne Grund hat(te) der Körper einen Teil des Leidens übernommen.
Wenn die Eltern früher Thema gewesen waren, klang es gar nicht so dramatisch, eher so nach „naja, welche Eltern sind schon perfekt“.
Wie speziell diese Eltern gewesen sein müssen, wurde dann mit der Geburt des Kindes deutlich. Die Schmerzen und die Erinnerungen ließen sich nicht mehr länger zurückdrängen – hatte die Klientin doch unmittelbar vor Augen, wie klein, unschuldig und hilflos Kinder sind, wenn ihnen (so) etwas angetan wird. Das Ausmaß ihrer eigenen hoch-traumatisierenden Erlebnisse wurde nicht nur sichtbar, sondern auch (wieder) fühlbar!
Selbst für mich als Therapeutin, die schon so manche „Geschichte“ gehört und bearbeitet hat, war dieser Prozess zutiefst beeindruckend. Es berührt einen zu sehen, welchen Schrecken Kinder ausgesetzt werden – und es ist bezaubernd zu erleben, wie entschiedene, mutige KlientInnen, wenn auch über einen „Umweg“ (nämlich die Geburt des eigenen Kindes) sich der Aufarbeitung widmen. Dazu gehört meistens leider auch, die Schmerzen zumindest kurz noch mal zu fühlen.
Aber dieser Prozess vollzieht sich jetzt aus der Perspektive der Erwachsenen! Und damit zum Glück endlich mal mit der Möglichkeit, die Wunden nicht nur ins Bewusstsein zu holen, sondern die Verhaltensweisen, die sich durch das Erlebte entwickelt haben*, zu erkennen und damit etwas zu ändern.
Nun sind wir in der Aufarbeitung schon ein großes Stück des Heilungsweges gegangen – ich bin sehr zuversichtlich, dass wir auch die letzten Spuren verwandeln können.
Denn diese Klientin ist wirklich vorbildlich in ihrer Psychohygiene und damit der Fürsorge für sich selbst!
P. S.:
Ich erwähne hier bewusst keine Einzelheiten der erlebten Grausamkeiten, möchte aber alle beruhigen, die von sich selbst eher als schlechte Eltern denken**:
DIESE Eltern verhielten sich zutiefst traumatisierend – DAS müssen zum Glück nicht viele in dieser Form erleben!
Übrigens:
Kennen Sie im Himmel den Stuhl für die perfekten Eltern? ()
Unangenehme Erlebnisse in der (frühen) Kindheit haben zweierlei prägende Wirkung:
1. das Kind „schwört sich“, dass es DAS nie mehr erleben/fühlen will, und entwickelt diverse Überlebens- und Vermeidungsstrategien;
2. das Kind empfindet das Erlittene als „Bestrafung“ – wofür, kann es nicht einordnen; aber die kindliche Logik besagt: wenn mir so etwas angetan wird, kann irgendwas mit mir nicht stimmen, ich bin nicht richtig, ich habe was falsch gemacht.
Diese Reaktionen sind typisch, selbst für Ereignisse, die in einer Zeit stattgefunden haben (inklusive Schwangerschaft), als das Kind noch gar nicht hätte in Worte fassen können, was und wie es die Geschehnisse erlebt.
Wundert es einen, wenn man vom Alltag aus startet und sich wiederholende Muster z. B. in der Beziehungs-(nicht)-gestaltung oder im Berufs-(nicht)-leben entdeckt, die ganz früh im Leben ihren Ursprung haben?
Wie tief ist die Erinnerung daran in jede Zelle eingegraben – bis in die Physis hinein?!
Aus dem Körper-Unterbewusstein werden von dort lange Zeit völlig unerkannt die Kopf-/Herz-Entscheidungen gesteuert, die so oft in neue „Katastrophen“ münden.
Das hängt u. a. damit zusammen, dass die Psyche ebenso wie der Körper einen Selbstheilungstrieb hat. So, wie ein Schnitt in den Finger nach einiger Zeit wieder verheilt (jedenfalls normalerweise), so strebt auch das System nach seelischer Heilung – und benutzt dabei interessante Strategien.
Wir geraten mit einer Genauigkeit von Zielflugraketen in Situationen und Begegnungen hinein, in denen wir „unser“ Thema wieder einmal in einer Variation geliefert bekommen. Wir treffen auf den Partner, der aus Tausenden anderer genau DAS Umfeld bedient, das wir kennen, obwohl wir uns geschworen hatten, nie wieder…
Die „Logik“ des Unterbewusstseins dabei: ENDLICH mal die losen Enden miteinander verknüpfen, endlich einen Abschluss finden, das Grauen überwinden, dem „Täter“ keine Macht mehr geben bzw. als „Sieger“ hervorgehen.
Da das Ganze in der Regel absolut unbewusst abläuft, fällt es uns aber leider meistens sehr schwer, das Gute an der Re-Inszenierung zu entdecken, nämlich die Chance, den Stachel mit Widerhaken endlich herauszuziehen. Eher neigen wir dazu, solche Situationen mit einem inneren „schooooon wieder“ und leider in vielen Fällen mit einer Re-Traumatisierung zu (über)leben.
()Kennen Sie im Himmel den Stuhl für die perfekten Eltern?
Nein?
Ehrlich?
Tja, können Sie auch nicht!
Hat noch niemals jemand drauf gesessen!
©Sylvia Götting, Blumenstr.9, 50259 Pulheim, www.allerleyraum.de